CHILOÉ I

CASTRO, die Hauptstadt Chiloés

Gut ausgeschlafen warteten wir am nächsten Morgen pünktlich um halb acht auf dem Parkplatz der Marina auf den Hafenbesitzer, der uns nach Castro, dem heutigen Hauptort der Insel, mitnimmt. Die Marina, gegründet von seinem Vater, der als deutscher Einwanderer hierherkam, betreibt er mit grosser Liebe und Enthusiasmus im Nebenerwerb. Hauptsächlich arbeitet der studierte Forstingenieur in einem Büro der Hauptstadt. Dank einem mehrmonatigen Praktikum absolviert im Schwarzwald, kann er gut deutsch. Trotz der frühen Morgenstunde ist er gesprächig und so erfahren wir schon einiges über diese zweitgrösste Insel Südamerikas. Insbesondere konnte er uns auch eine Telefonnummer geben, die wir anrufen sollten, um ein Auto zu mieten, ein Muss, denn die Marina liegt weit ab vom öffentlichen Verkehr. Der morgendliche Berufsverkehr in Richtung Stadt war erstaunlich dicht. Wir hätten uns nicht gewundert, gleich vor dem Gubrist Tunnel zu stehen. An einem belebten Platz, der Plaza de Armas, mitten in der Stadt hiess er uns dann aussteigen. Da standen wir also etwas verloren im Nieselregen und versuchten, uns zu orientieren. Vorerst einmal Kaffee, das schien uns wichtig. Katja war um eine Idee nicht verlegen. Da wir ohnehin die Stelzenhäuser, die Palafitos von Gamboa besuchen wollten, bot es sich an, das Kaffee dort zu geniessen. Wir machten uns auf den Weg hinunter entlang der Esmeraldastrasse. Schon von hier geniesst man einen schönen Blick auf die interessanten, farbenfrohen Bauten, die mit ihren Füssen im Wasser stehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Interessant war aber auch die Stützmauer am bergseitigen Strassenrand, welche mit zahlreichen Graffitis verziert ist. Fein säuberlich aufgemalt finden sich auf der sonst grauen Betonmauer Sujets, welche Szenen aus dem lokalen Leben erzählen und die gegenüberliegenden Palafitos widerspiegeln. Die hohe künstlerische Qualität dieser murallas nahm uns derart gefangen, dass wir darob beinahe unseren Zmorgenkaffee vergassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf dem Weg nach unten mussten wir dann noch bei der Schiffswerft Halt machen und staunen, wie hier auf traditionelle Art und Weise einfache Holzbalken zu Schiffsrümpfen zusammengezimmert werden, faszinierend. Schade war Dani nicht dabei. Er hätte sicher noch auf viele Details dieser jahrhundertealten Zimmermannskunst hingewiesen. Noch ein paar Fotos, bevor wir zur Calle Ernesto Riquelme hinuntergehen.

Hier an dieser Strasse hat uns das Internet ein Café versprochen und tatsächlich finden wir das etwas verträumt anmutende Haus, geschlossen. Leicht frustriert stapfen wir trotz des trüben Wetters noch bis zuhinterst durch die Riquelme und bestaunen die bunten Holzhäuser mit ihren nassen Füssen, bevor wir zum Stadtzentrum zurückkehren, uns nochmals an den Wandmalereien und der Blütenpracht im Park erfreuend.

 

Zurück am Hauptplatz fanden wir dann ein Restaurant, in welchem wir unser Spätstück einnehmen konnten. Die Auswahl auf der Menuekarte war vielfältig und glücklicherweise mit Fotos versehen, so dass auch wir verstehen konnten, was wir mit beinahe triefenden Lefzen bei der überaus freundlichen Bedienung bestellen.

Frisch gestärkt nahmen wir unseren nächsten Programmpunkt in Angriff. Wir überquerten den liebevoll gestalteten Hauptplatz, bewunderten die dort aufgestellten Holzfiguren und besuchten die Kathedrale San Francisco, die zusammen mit zahlreichen anderen Kirchen dieser Insel zum UNESCO Weltkulturerbe gehört.

Die Christianisierung erreichte die Insel 1608, als die Jesuiten hier ankamen. Sie zogen als Wanderprediger umher, um so der zerstückelten Landestopografie gerecht zu werden. Ihre Ausstrahlungskraft war offenbar derart, dass sie in jedem verlorenen Weiler die spanischen Siedler davon zu überzeugen wussten, eine Kapelle (cabí) zu errichten, die dann mindestens einmal jährlich von den zu Fuss oder mit dem Kanu umherziehenden Patres besucht wurde. Über 180 dieser schmucken Holzkirchen wurden zu jener Zeit auf Chiloé und den kleinen, vorgelagerten Inseln errichtet. Leider ist ihr heutiger Zustand oft desolat, Geld für eine Restauration nicht vorhanden.

Im düsteren Licht des Nieselregens erweist sich die grelle, knallgelbe Fassade der Kathedrale herrlich erfrischend. 1567, im Jahre der Stadtgründung, wurde diese erste Kirche zu Ehren von Apostól Santiago errichtet. Die Heiligkeit dieses Ortes rettete das Gebäude aber nicht vor der Zerstörungswut holländischer Piraten. 1711, nach der vollständigen Zerstörung, wurde die Kirche durch die Jesuiten wieder aufgebaut. So quasi in deren Hinterzimmer nisteten sich die Franziskaner ein, was aber auch nicht verhinderte, dass diese Kirche unzählige Male durch Feuer, Stürme und Erdbeben zerstört wurde. Das Gebäude in seiner heutigen Form und dem San Francisco gewidmet besteht seit 1910. Nach den zahlreichen Feuersbrünsten plante man das Wahrzeichen der Stadt aus Stein zu errichten. Der aus Mailand eingewanderte Architekt Eduardo Pivasoli erbaute die Kirche jedoch wieder aus dem hierzulande reichlich vorhandenen, heimischen Holz, gemäss der von den Jesuiten überlieferten Tradition. Den gelben Anstrich erhielt die Fassade erst 2012. Vorher sei sie mit einem düsteren Violett getüncht gewesen. Die über 40 m hohen Türme sind mittlerweile etwas schief, wurden aber bereits 2008 stabilisiert.

Das Innere der Kirche empfängt uns mit einer überraschenden Helligkeit und Wärme. Der lichtdurchflutete Raum nimmt einem sofort gefangen und man kommt aus dem Staunen über die chilotische Zimmermannskunst nicht heraus. Kunst heisst hier auch, dass nicht ein einziger Nagel oder Schraube verwendet wurde, um diesen Bau zu errichten. Die gewissenhaft ausgewählten Hölzer, Alerce, Cypress, Coigüe aber auch Rauli Beech und Olivillo, alle hier heimisch, sind sorgfältig aufeinander abgestimmt und kunstvoll in Szene gesetzt. Diese sehr hellen Hölzer verleihen dem Raum erfrischende Freundlichkeit. Grosse Fenster zaubern ein spannendes Lichtspiel in den Kirchenraum und erhellen auch die verschiedenen Seitenaltäre mit ihren Heiligen lokaler, überseeischer, gar überirdischer Herkunft. Der oktogonale Dom erhebt sich 32 m über den Altarraum.

 

 

 

 

 

 

Zimmermannskunst vom Feinsten

arcàngel Miguel besiegt Satanàs

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Etwas verklärt und geläutert traten wir wieder in das diesige Wetter hinaus. Selbst das Grau dieses Tages schien mittlerweile einen silbernen Schimmer bekommen zu haben. Unsere Schritte führten uns entlang der Hauptstrasse zum kleinen Ortsmuseum. Das Museum ist zwar klein enthält aber einen riesigen Schatz an historisch wertvollen Informationen, die uns durchaus spannend erschienen. Als die Spanier 1567 die seit 1540 bekannte Insel Chiloé besetzten, lebten hier bereits Chonos und Mapuches Indianer, die leicht mittels der «encomienda» unterjocht werden konnten, ein System von unbezahlter Zwangsarbeit, mit der die Einheimischen ihre Dankbarkeit der spanischen Krone gegenüber ausdrücken durften. Ihre Arbeit bestand darin nach Gold zu graben, Textilien zu weben oder ihre Alercewälder abzuholzen. Viele wurden auch als Sklaven nach Peru verschleppt. Zusammen mit verschiedenen Epidemien führten die encomienda und die Massendeportationen zu einem empfindlichen Rückgang der einheimischen Bevölkerung von 10’000 auf noch 3’000 Personen. Erst als die Insel ausgeblutet war, 1782, wurde das abscheuliche System der encomienda aufgegeben. Ersetzt durch eine Steuer, die an den Virrey, den Vizekönig in Peru entrichtet werden musste, fand sich aber eine weitere Möglichkeit das Blut der Ärmsten zu saugen. Inzwischen entwickelte sich auf der Insel ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht zwischen der alten, weisen Bevölkerung und den Neuzuzügern. Die Ermangelung praktisch jeglichen Metalls war Anregung für zahlreiche raffinierte Erfindungen, in denen statt Eisen Holz verwendet wurde. Man konstruierte Schlitten, Webstühle, Anker, Ölpressen und selbst kleine Mühlen. Die Bevölkerung überlebte dank der bescheidenen Landwirtschaft. Es entwickelte sich eine neue besondere Kultur, die noch heute einen Chiloten von einem Chilenen unterscheidet. Der Ausdruck Chilote, früher Inbegriff eines ungebildeten, dümmlichen Bauern, ist heute alles andere als abfällig. Die Chiloten sind ein arbeitsames, ruhiges Volk, reich an Tradition, Folklore, Legenden und Mitmenschlichkeit. Das Museum zeigt viele Ausstellungsstücke zur Landwirtschaft. Ein wichtiger Teil bilden die Holzkirchen, die natürlich nicht als Original hier ausgestellt werden, sondern in Form von Postern präsentiert werden. Auch die Schifffahrt, das Meer und die Fischerei bilden einen wesentlichen Bestandteil der Ausstellung.

 

 

 

 

 

Mein Favorit war der ancla chilote, ein Anker, wie er an vielen Orten zu sehen ist. Dabei handelt es sich um ein Holzkreuz, auf dem ein Stein gelagert ist, fixiert mit einem Holzgerüst, oben zusammengebunden. Ach, ich bin schon froh, mussten wir uns nicht auf ein solches Teil verlassen. Offenbar hat das aber ganz gut funktioniert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir schlenderten durch die Avenida Pedro Montt hinunter Richtung Hafen. Auch hier sind die Häuser farbig getüncht und verleihen dem Quartier ein fröhliches Aussehen. Nicht verwunderlich, dass in dieser Gegend versucht wird den Alltag aufzuheitern. Nicht ständig, aber im Schnitt jeden zweiten Tag regnet es hier und wohlverstanden, wir befinden uns auf der Leeseite, der trockenen Seite der Insel. Wie wird es wohl auf der Westseite, auf der dem Pazifik zugewandten Küste aussehen. Unten am Wasser gibt es einige Boutiquen. Die Leute sind hier auf Tourismus eingerichtet. Hin und wieder verirrt sich ein Kreuzfahrtschiff in diese Gegend, meist von Santiago herkommend in Richtung Kap Horn unterwegs, oder umgekehrt.

 

 

 

 

 

 

Die Armada gibt sich hier gut abgeriegelt. Hier wird auch ein Tsunami Warnsystem betrieben. Zu Recht. Auch mir ist das Erdbeben von 1960 schwach in Erinnerung geblieben. Eines der stärksten Erdbeben des Jahrhunderts hatte sein Epizentrum nahe der Insel Chiloé und führte zu einem Tsunami und zum Ausbruch des Puyehué Vulkans. Erfreut darüber, dass sich das Wasser dermassen wie nie zurückzog, strömten die Anwohner in die leeren Buchten, um Muscheln zu sammeln. Ihre kulinarische Begeisterung für Meeresfrüchte hatte fatale Folgen. Das Wasser kam nach einer halben Stunde in Form einer fast 10 m hohen Flutwelle zurück, riss hier 200 Leute in den Tod und zerstörte ganze Küstenabschnitte. Es war das schwerste, jemals aufgezeichnete Erdbeben. Die in der Nähe liegenden Städte Puerto Montt und Valdivia wurden fast komplett zerstört. Über 1’600 Personen kamen ums Leben. Dabei auch eine ganze Anzahl auf der gegenüberliegenden Seite des Pazifiks, wo der Tsunami ebenfalls eine Flutwelle auslöste (Japan 6 m, Hawaii 11m, Osterinsel 6 m, Australien 2 m). Die höchste Welle wurde auf der chilenischen Insel Mocha mit 25 m gemessen. Das Beben war so gewaltig, dass sich durch die Verschiebung der Erdplatte die Erdachse um 3 cm verschob. Der Boden in Valdivia senkte sich dauerhaft um 2 m.

Wir waren uns der Tsunamigefahr bewusst, wagten aber dennoch unseren Weg entlang der Uferpromenade fortzusetzen. Unversehrt erreichten wir die Plazuela el Tren.

Die Ferrocarill de Chiloé war eine zwischen 1912 und 1960 betriebene Schmalspurbahn, deren Spurweite gerade mal 60 cm betrug. Über eine Strecke von 90 km verband sie die Hauptstadt Castro mit der im Norden liegenden Stadt Ancud. In den ersten Jahren dauerte diese Fahrt fünf Stunden. Aufgrund mangelnder Erfahrung gab es immer wieder Entgleisungen. Auch erzählt man, wie die Passagiere der 3. Klasse bei den steilsten Steigungen jeweils aussteigen mussten, um den Zug zu schieben. Hier beim ehemaligen Bahnhof finden sich noch ein paar Relikte, welche heute unter Denkmalschutz stehen. Die Infrastruktur der Bahn wurde anlässlich des verheerenden Erdbebens 1960 grösstenteils zerstört und mangels Rentabilität nicht wieder aufgebaut. Geblieben sind diese Stücke und die Liebeserklärung des Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda.

Die in Deutschland gebaute Henschel-Lokomotive Nr. 5057

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unser Weg führte uns weiter entlang der Uferpromenade, der costanera, zur Palafitosiedlung Pedro Montt. Die Pfahlbautensiedlungen hier in Castro, es gibt deren drei, entstanden in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts und wurden errichtet von den Ärmsten der Armen. Missernten, die vor allem den Kartoffelanbau betrafen, führte in den ländlichen Gegenden zu einer immensen Hungersnot, welche die notleidende Bevölkerung in die Stadt trieb. Hier rangen sie sich ihren Lebensraum der See ab. Armut ist im Übrigen nichts Neues auf dieser Insel. Schon unser Darwin, als er 1834 an Bord der HMS Beagle die Stadt besuchte, war tief berührt von der bitteren Armut und musste davon berichten: «In einer Stadt, wo hunderte Leute leben, grasen die Schafe unbehelligt in den überwachsenen Strassen, nicht einmal ein Pfund Zucker oder ein Messer lässt sich kaufen. Keiner der Einheimischen hatte eine Uhr. Die Glocke wurde von einem älteren Kerl geläutet, von dem man annahm, dass er eine einigermassen annehmbare Ahnung von Zeit hatte». Wir hatten keine Probleme mit weidenden Schafen, bestaunten dafür einmal mehr die Schwarzhalsschwäne, die im ablaufenden Wasser majestätisch dahinglitten.

Es gibt durchaus auch moderne Bauten in Castro. Hier das alles überragende Einkaufszentrum.

Noch mehr interessierte uns an diesem Nachmittag die Palafito Patagonia Cafetería, ein schmuckes, mit viel Liebe restauriertes Palafito, dem wir liebend gern einen Besuch abstatteten. Das modern geführte Café mit Terrasse und Aussicht auf das Wasser bietet leckere, hausgemachte Kuchen, allerlei kleine Speisen und Getränke an. Die heisse Schokolade war so etwas von fein! Die Räumlichkeiten des Cafés dienen aber auch als Kunstgalerie und bieten den lokalen Künstlern und Kunsthandwerkern eine beliebte und beachtete Plattform. Wir unterhielten uns lange mit den Besitzern dieses Hauses. Es war interessant zu erfahren, mit wieviel Schwierigkeiten und Hürden ein solches Palafito zu renovieren und unterhalten ist. Man stelle sich nur schon vor, wie verrottete, morsche Pfähle unter einem Haus zu ersetzen sind. Die Kosten sind immens, Grund dafür, dass diese Häuser heute den wohlhabenden Leuten vorbehalten sind.

Die Terrasse der Cafetería

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von hier aus telefonierte ich dem Autovermieter. Es verging keine halbe Stunde und wir konnten unser Fahrzeug vor dem Café entgegennehmen. Die Formalitäten erledigten wir locker bei einer weiteren Tasse Kaffee, sprachlich zwar etwas unbeholfen, aber wir wussten ja beide, was wir voneinander wollten. Stolz setzten wir uns in den Wagen und machten erste Fahrversuche auf chilenischen Strassen.

Nach einem kurzen Einkauf in der Stadt, fuhren wir in Richtung Süden nach Chonchi. Auch diese Stadt ist voller interessanter Details, umrankt von zahlreichen Mythen und Legenden. Genannt die Stadt der drei Stockwerke, findet sich unten der Hafen mit dem kleinen Marinestützpunkt und dem auf den spärlichen Tourismus ausgerichteten, pittoresken Kunsthandwerkermarkt, dem feria artisanal. Im mittleren Stockwerk finden sich die traditionellen Häuser, schön um das Museum herum drapiert. Das Obergeschoss, wie könnte es anders sein wird dominiert von der prächtigen Kirche und dem Hauptplatz.

Nach dem intensiven Tag war bei uns die Luft etwas draussen. Ein kurzer Halt vor der Kirche und einen Rundumblick über den wenig spektakulären Hauptplatz befriedigten unser Interesse am obersten Stockwerk zur Genüge. Im untersten Stockwerk schafften wir es noch über den Handwerkermärit. Hier galt unser Hauptinteresse aber den kulinarischen Genüssen. In einem der umgebauten, historischen Hafengebäude haben wir noch das Nachtessen eingenommen. Riesiges Glück bescherte uns das Museum. Es war bereits geschlossen und befreite uns damit von dem zwanghaften Gefühl, es besuchen zu müssen. Es war schon finstere Nacht, als wir zu KAMA* zurückfuhren.