DRAKE HIN
Wir wussten, dass wir den public jetty morgens um sechs Uhr verlassen mussten, weil wieder ein Kreuzfahrtschiff Stanley besucht. Es war kaum halb sechs, als uns ein übereifriger Angestellter aus den Federn klopfte, um uns hinaus zu komplementieren. Ja, ja, haben wir so abgemacht, dass wir gehen, und wir waren bereit. Noch etwas verschlafen lösten wir die Leinen und fuhren bei handigem Westwind durch die Hafenbucht Richtung Narrows.
Und wer war hier, wer? Die Norwegian Sun, welcher wir bei unserer Ankunft genau an dieser Stelle ausweichen mussten. Jetzt wussten wir auch, wem wir am Steg Platz machen mussten. Begleitet von Delfinen, Kormoranen und Pinguinen ging es westwärts, hinaus aus der Bucht von Port Williams um dann – tatsächlich- nach Süden abzubiegen.
Der Point-of-no-return war überschritten und unser Pièce de Résistance, die Antarktis, lag vor uns. Die Wetterprognose für die nächsten Tage war günstig. Wir kamen gut voran. Als wir aus der Abdeckung der Falklands herauskamen, wurde die See allerdings ruppiger, was sich beim Annähern an die Burdwoodbank, einer Erhebung im Meeresgrund (auf weniger als fünfzig Meter) spürbar verstärkte. Über der Bank selbst war es relativ ruhig und wir hätten uns solche Verhältnisse für den weiteren Verlauf gewünscht.
Die Argentinier nennen diese Bank Namuncurà. Sie war beliebtes Ziel der kommerziellen Fischer, insbesondere nachdem die Grand Banks vor Neufundland (Kanada) völlig leer gefischt und zerstört waren. In fünfzehn Jahren wurden dort acht Millionen Tonnen Fisch aus dem Wasser gezogen, zu viel, um nicht den Fanggrund ein für alle Mal zu zerstören. Man brauchte neue Fischgründe. Hier im Süden hoffte man auch den Kabeljau zu finden, eine demersale Fischart, die wie die Plattfische (Scholle, Flunder etc.), Arten, die Bodennähe und Flachwasserzonen bevorzugen. Kabeljau lässt sich gut konservieren und erleidet dabei keine Qualitätseinbusse. Der unerschöpfliche Hunger nach Fisch sollte auch hier Grundlage eines lukrativen Geschäftes werden.
Damit die Fauna nicht dasselbe Schicksal erleidet, wie die in den Grand Banks im Norden des Atlantiks, wurde von Grossbritannien im Südatlantik ein immenses, 850 000 quadratmeilengrosses Fischereischutzgebiet errichtet. Es gehört heute zu den am sorgfältigsten kontrollierten Schutzzonen der Welt und wurde dadurch zum Schauplatz eines der grössten Erfolge in Sachen Umweltschutz und nachhaltigem Fischen der letzten Jahre. Hier wird heute mit grosser Umsicht, Zurückhaltung und Verantwortungsbewusstsein Fischfang betrieben. Grosse, mit Kanonen bestückte Patrouillenboote, achten unerbittlich darauf, dass sich alle an die Gesetze halten. Das war nicht immer so. Bis in die 1980er Jahre war die Jagd auf Wale, Pelzrobben, Südkaper, Pinguine und Seeelefanten ein äusserst einträgliches Gewerbe. Auf Südgeorgien wurden bis in die 30er Jahre in den sechs dort ansässigen Fischfabriken jährlich an die 30 000 Blauwale verarbeitet. Unter der britischen Gesetzgebung hätte man diesem Treiben Einhalt gebieten können, doch dann kamen die Fabrikschiffe auf, die keiner Rechtsprechung unterstanden. Japanische, russische, koreanische und seinerzeit ostdeutsche Schiffe wüteten in dieser gesetzesfreien Zone bis fast zur völligen Ausrottung der gefährdeten Wal- und Fischarten. Die Blauwalpopulation ist auf heute weniger als zweitausend Exemplare geschrumpft. Es war also Zeit, diese Schutzzonen einzurichten, die auch für uns gut sichtbar in der Seekarte markiert und eingetragen sind.
Die Burdwoodbank, als Kernzone von 1’800 km2, wurde 2003 auf Anregung von Argentinien sogar zur absoluten Schutzzone erklärt. Der Fischereidirektor hat seinen Sitz im Regierungsgebäude auf den Falklands. Fischerei ist aber eine weltweite Angelegenheit und so stützt sich der Direktor bei seinen Entscheidungen auf die verschiedenen Kommissionen. Jedes Jahr werden in Hobart Fangquoten festgelegt. Dann werden von den Falkländern unter den weltweit tätigen Fischereiflotten die Lizenzen für den Südatlantik versteigert, was den Inseln Einnahmen von gegen vier Millionen Pfund generiert, Geld, das eben auch Argentinien gerne abschöpfen würde.
Die Fauna des Südatlantiks indes unterscheidet sich wesentlich von derjenigen im Norden. Hier im Süden, gibt es Unmengen von Krill, diesen winzigen, krabbenähnlichen Tieren, die immer noch gerne von den Fischereiflotten der Russen, Ukrainern und Japanern gefischt werden. Die Krabbeltiere werden zu einer Paste zerstampft, zu Konserven verarbeitet oder zu grossen Blöcken gefroren und als Viehfutter auf den Markt gebracht. Manchmal landet Krill aber auch in getarnter Form auf unseren Esstellern. Dabei realisieren wir selten, was wir aufgetischt bekommen. Weiter finden sich in diesen Gewässern der Antarktisdorsch und der Eisfisch, der so heisst, weil er extrem niedere Temperaturen überstehen kann. Zu seiner Namensgebung hat sicher auch seine blasse Farbe beigetragen, die daher rührt, dass dieser Fisch als einziges Wirbeltier in seinem Blut keine, den Sauerstoff transportierenden, roten Blutkörperchen aufweist. Stattdessen findet sich das lebenswichtige Gas gelöst in der Blutflüssigkeit, dem Plasma, ähnlich der Kohlensäure im Blööterliwasser. Zudem haben einige dieser Fischarten, diejenigen, die in der Nähe des Eises leben, haben in ihrem Blut ein Glykoprotein entwickelt, das als Frostschutz dient und den Lebenssaft vor dem Gefrieren schützt.
Dann gibt es da noch den Schwarzen Seehecht, den Patagonian toothfish, der bisher, das heisst bis etwa 1988, den östlichen und fernöstlichen Fangflotten entgangen war. Das war bis kurz nachdem man diesem ziemlich grossen, bis zu 2,10 Meter langem, bis zu fünfzig Jahre alt werdenden, hässlich aussehenden, dafür aussergewöhnlich schmackhaften Fisch einen neuen, englischen Namen gab. Fortan wurde er als Chilean sea bass oder chilenischer Zackenbarsch bezeichnet. Als solcher tauchte er immer öfter auf den Speisekarten nobler Fischrestaurants in Europa und Amerika auf. Diesem immer beliebteren, mittlerweile heiss begehrten Fisch, heute als weisses Gold der südlichen Meere bezeichnet, wird von eigens dafür ausgerüsteten Fischfangflotten in den Gewässern zwischen den Falklands und Südgeorgien nachgestellt. In den seichteren Gebieten werden von Trawlern Schleppnetze benutzt, in tieferen Gewässern hat man mehr Erfolg mit Langleinen. Diese, bis zu fünfzehn Kilometer langen Leinen sind mit tausenden Haken bestückt, jeder versehen mit einem Köder in Form eines kleinen Polypen, einer Sardine oder billigen namibischen Bastardmakrele. Diese Leinen sind von brutaler Effizienz. Sie sinken auf den Grund, wo man sie über Nacht belässt. Wenn sie morgens wieder an Bord gezogen werden, hängen daran Fische mit einem Gesamtgewicht bis zu fünf Tonnen. Man zieht diese Leinen über eine Walze hinauf. Dabei werden die Fische automatisch von den Haken gelöst und die besonders geschätzten Wangen der Seehechte abgetrennt. Der Rest wir schockgefroren und in den Kühlräumen der Schiffe gelagert. Diese Fangmethode hat schwerwiegende, tragische Nebenwirkungen. Bevor die köderbestückten Haken auf den Grund sinken, ziehen sie Seevögel an, die die Köder schlucken und mit ihnen unweigerlich in die Tiefe gezogen werden und dabei ertrinken. Man schätzt, dass so jährlich über Hunderttausend Vögel umgebracht werden und insbesondere Albatrosse Gefahr laufen, auszusterben.
Mehrere Massnahmen minimieren das Risiko für die Vögel. So werden die Leinen beschwert, damit sie schneller absinken. Sie dürfen nur nachts ausgebracht werden und sollten mit farbigen, im Wind flatternden, die Vögel verscheuchenden, abschreckenden Bänder versehen sein. Zudem dürfen die Fischer ihre Abfälle nicht mehr über Bord schmeissen. Damit wird verhindert, dass die Vögel angelockt werden. Alle diese Massnahmen sind simpel und billig und scheinen zu funktionieren. Im Gegenteil, es scheint sich sogar zu lohnen. Dort, wo an den Haken Fische statt Vögel hängen, steigert sich der Gewinn der Fischer um jährlich zehn Millionen Pfund. Die lizenzierten Fischerboote müssen einen Transponder mitführen und werden so getrackt, d.h. man kann sie im Internet verfolgen und somit auch einfach kontrollieren. Kontrollen werden aber auch mittels speziell programmierten Spionagesatelliten gemacht. So werden die illegal sich im Gebiet befindlichen Fischer aufgespürt. Diese Freibeuter werden dann von den schwer bewaffneten Patrouillenbooten, wie der HMS Northumberland oder Pharos SG, die mit Maschinengewehren der Firma Oerlikon ausgerüstet sind, gnadenlos verfolgt und wenn nötig durch den ganzen Südatlantik gejagt, um sie zur Strecke zu bringen. So geschehen 2003 mit der Viarsa, die so lange auf der südlichen Halbkugel herumgehetzt wurde, bis sie schliesslich vor der südafrikanischen Küste aufgebracht, ihre Mannschaft verhaftet und den in ihrem Bauch gelagerten Seehecht im Wert von vier Millionen Dollar beschlagnahmt werden konnte. Dieses Schiff fuhr unter uruguayischer Flagge und war im Besitz eines galizischen Syndikats, das noch zwanzig weitere solche Schiffe besitzen soll, alle unter unterschiedlichen Flaggen, aber derselben Mission unterwegs, die Meere auszuplündern.
Ebenfalls problematisch sind die vielen illegalen squid-jiggers, die aber, insbesondere von oben, leicht auszumachen sind. Sie benützen nachts starke, gleissend helle Lichtstrahlen, die sie in die Tiefe der See richten, um die Tintenfische anzulocken. Die Grösse der Tintenfische variiert von lediglich kleinen 15 cm bis zu einer enormen Spannweite von vier Metern. Es wurde auch schon von Kalamaren mit einer Grösse von 15, ja 22 m berichtet. Diese Lebensform ist relativ wenig erforscht und obwohl sie häufig anzutreffen sind, existieren in der Tiefe der Meere sicher noch zahlreiche Arten, von welchen wir keine Ahnung haben. Auch diese Fischerei untersteht zu Recht einer strengen Gesetzgebung. Die Tintenfische dieser Region sind die Lebensgrundlage zahlreicher anderer Tierarten, die beim Versiegen dieser Nahrungsquelle unweigerlich vom Aussterben bedroht würden, da Alternativen schlicht fehlen.
Übrigens, nicht nur die Fischer, auch wir brauchten eine Bewilligung, um die Gewässer der Antarktis befahren zu dürfen und dort an Land zu gehen. Diese Erlaubnis wird vom Flagggenstaat, in unserem Fall also von der Schweiz erteilt. Die Regulierungen, die in diesem von der Schweiz unterzeichneten Vertrag festgehalten sind umfassen mehrere Seiten. Alles, was man darf und nicht darf ist in diesem wirklich umfassenden Werk geregelt. Wir mussten unterschreiben und uns verpflichten, uns an diese Abmachungen zu halten. Die erste grosse Schwierigkeit lag darin herauszufinden, wer diese Bewilligung ausstellt. Es ist das Seeschifffahrtsamt in Basel. Herr Y. Suter, zuständig für diesen Bereich, hat uns mit viel Geduld und Kompetenz unterstützt und geholfen, diese Formulare richtig auszufüllen. Ein ganz herzliches Dankeschön!
Die Bank ist gegen 120 Meilen breit, was bei uns einer Tagesetappe entspricht. Schon bald waren wir auf der geografischen Breite von Kap Hoorn. Die Wellen begannen, ihrem Ruf Ehre zu bereiten. Lang und mächtig rollen sie daher. Das Wetter war recht sonnig und unter Begleitung von Walfischen wurden wir von den Wellen sanft angehoben und von deren Kamm wieder ins Tal hinunter bugsiert. Der Wind aber wurde schwach und schwächer, bis wir schliesslich am 12. abends den Motor einsetzten, dabei die Gelegenheit wahrnahmen, Süsswasser zu produzieren und unsere elektrischen Geräte und Batterien zu laden. Der Wind liess aber nicht lange auf sich warten. Oho, und in der Nacht auf den 13. wurde es dann aber so richtig rockig. Unsere KAMA* fühlte sich dabei in ihrem Element und begann lebhaft zu tanzen, tatsächlich Rock n’ Roll. Sie fragte nicht darnach, wie wir uns in ihrem Innern fühlten. Uns blieb eigentlich nichts anderes übrig, als mit zu tanzen. Nur, wir mussten uns überall halten und abstützen, aufpassen, dass wir uns nicht weh taten, wenn wir durch die Kabine schleuderten. Beim Liegen, also beim Versuch zu schlafen, wurden wir unerbittlich hin und her gerollt, was sich klar auf die Qualität des Schlafes auswirkte. Der Toilettengang entwickelte sich zu einem wahren Kabinettstückchen, das auch in einem Zirkus gut angekommen wäre. Alles, was nicht niet- und nagelfest verstaut war, wurde von uns am Morgen wieder aufgeräumt. In der Nacht überquerten wir die antarktische Konvergenzzone, die auch in der Seekarte als ondulierende Linie rund um die Antarktis eingezeichnet ist. Hier in diesem Gebiet treffen die praktisch salzlosen Kaltwasserströme der Antarktis auf das wärmere Salzwasser, das vom Norden gegen Süden strömt. Wir erkannten diese Grenze daran, dass sich hier Nebel bildet und die Temperaturen von Luft und Wasser sprunghaft absinken. Die Wassertemperatur sinkt um 6° C. und es zeigt sich eine deutliche Veränderung der Wasserfarbe. Zudem wird das kalte Wasser gezwungen abzusinken, wird dabei mit dem warmen vermischt und steigt wieder auf. Dieses Mischwasser ist reich an antarktischem Krill und ähnlichen Krustazeen und ist Nahrungsquelle vieler Vögel und Meeressäuger, wie Finn- und Blauwale aber auch der Pinguine. Die zwanzig bis dreissig Meilen breite Zone ist aber auch eine wichtige Barriere für verschiedene Tierarten, die nur entweder nördlich oder südlich davon vorkommen.
Heute ist also der 13. Januar, das sagt mir doch etwas?! Genau, der Geburtstag von Peter. Vielleicht war er es, der in mir die Liebe zu Schiffen erweckt hat. Als kleiner Bub durfte ich jeweilen samstags mit seiner Familie in den Eschenbergwald, um hinten an der Töss zu bräteln. Dabei hat er mich gelernt, wie man aus Rindenstücken der Föhre mit dem Sackmesser Schiffli schnitzen konnte. Ich durfte sein Taschenmesser benutzen, selbst damit hantieren… Peter blieb zeitlebens ein Freund der Familie.
Wir merkten an der steigenden Anzahl uns begleitender Vögel, Albatrossen und Sturmvögel, dass wir nicht mehr allzu weit von Land entfernt sein konnten. Elegant und gekonnt umkreisen sie KAMA*, wahrscheinlich in der Hoffnung, den einen oder anderen Happen ergattern zu können. Aber erstens sind wir kein Fischerboot und zweitens soll man nichts über Bord werfen und schon gar nicht Vögel füttern. Doch wir versuchten, sie zumindest zu fotografieren. Die Vögel waren auch das Einzige, was es auf dieser Überfahrt zu fotografieren gab. Die Faszination für diese uns ständig und treu begleitenden Tiere wuchs von Stunde zu Stunde. Aber es ist gar nicht so einfach im Geschaukel der Wellen und den mageren Lichtverhältnissen diese schnell segelnden Vögel in den Kasten zu bekommen. Ich habe versucht die verschiedenen Tiere zu bestimmen und in den hier veröffentlichten Fotos anzuschreiben. Ornithologisch gebildete Leser mögen mir verzeihen, für Anregungen und Korrekturen bin ich dankbar.
In der nächsten Nacht überfuhren wir den 60. Breitengrad und gelangten somit in den Bereich der screaming sixties. Aber auch diese Windzone hielt sich zurück und wir konnten ruhig unseren Kurs segeln. Sonnen- bzw. Mondenschein wechselten sich ab mit Graupelschauern. Schliesslich brauchten wir sogar den Motor, um vorwärts zu kommen. Gegen Abend des nächstens Tages, also am 15. 1. der freudige Aufschrei von Katja: «Eisberg, Eisberg!» Tatsächlich, da schwamm ein Riesenkoloss von Tafeleisberg, blendend weiss leuchtend im letzten Licht des Abends. Je besser wir Ausschau hielten, desto mehr dieser eisigen Riesenbrocken konnten wir entdecken.
Und dann war da plötzlich auch Land in Sicht, die King George Island. Deutlich erkannte man die Kulisse der schneebedeckten Berge Es war etwa Mitternacht, als wir im fahlen Licht des antarktischen Hochsommers die Ostspitze, das Cape Melville, umrundeten und in die Bransfield Strait einbogen, welche die South Shetland Islands von der antarktischen Halbinsel trennt.
Wir sind angekommen!